Der
Jenny-Ries-Platz

Walter Schörling
P R E S S E I N F O R M A T I O N

Ansprache zum 27.1.2019 / Einweihung Jenny-Ries-Platz

Verehrte Damen und Herren, Freunde und Freundinnen Blumenthals, liebe Gäste!

Der 27. Januar ist ein Tag, der sehr lange gebraucht hat, in den offiziellen Kanon von Gedenk- und Feiertagen zu gelangen. Erst 1996 wurde er als nationaler Gedenktag eingeführt und 2005 zum Internationalen Tag des Gedenkens an alle Holocaust-Opfer erhoben. An diesem Tag – so die offizielle Formel – gedenken wir der Entrechteten, Gequälten und Ermordeten des Nazi-Regimes: Das waren die europäischen Juden, die Sintis und Romas, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, Wehrdienstgegner, Homosexuelle, politische Gefangene, Kranke und Behinderte, Menschen anderer Hautfarbe sowie Menschen, die Verfolgten Schutz und Hilfe gewährten und das mit ihrem Leben bezahlten.

Es sprengt jede Vorstellungskraft, auf welches Grauen die Rotarmisten am 27. Januar 1945 in Auschwitz-Birkenau gestoßen waren. Der Begriff >Befreiung< macht angesichts rauchender Schlote und ausgemergelter Häftlinge immer noch sehr beklommen. Die meisten Häftlinge und ihre Bewacher waren längst verschwunden. Sie befanden sich – wie viele Insassen anderer KZ-Lager auch – auf so genannten Todesmärschen, um sie dem Zugriff der herannahenden Alliierten zu entziehen und umzubringen. Der 27. Januar, meine Damen und Herren, war nur der Beginn vom Ende schrecklicher Torturen gewesen.

Jenny Ries, zu deren Erinnerung wir heute hier zusammen gekommen sind, hatte die letzten Kriegstage nicht mehr erlebt. Im Sommer 1942 bekam sie – wie alle anderen noch lebenden Juden in der Hansestadt und im Regierungsbezirk Stade – die Aufforderung, sich mit dem nötigsten Gepäck für einen Transport nach Theresienstadt bereit zu halten. Niemand der Angeschriebenen durfte über die so genannte >Abwanderung< sprechen oder in irgendeiner Form Mitleid erregen. Die Blumenthalerin Jenny Ries wurde am 23. Juli aus dem jüdischen Altersheim in Gröpelingen abgeholt und wie die meisten der Deportierten einige Wochen später im Vernichtungslager Treblinka ermordet.

Jenny Ries war seit 1920 alleinige Geschäftsinhaberin des Textilkaufhauses Ries an der Lüssumer Straße 1, welches sie und ihr Mann David im Jahr 1900 eröffneten. Sie war eine selbstständige, moderne Kauffrau und nicht orthodoxe Jüdin, eine großzügige Arbeitgeberin, Witwe und Adoptivmutter, die zwei eigene Kinder verloren hatte. Das unterschied sie vielleicht von anderen jüdischen Einwohnern in Blumenthal. Ihr Mann David Ries, stammte aus einer großen jüdischen Familie in Schwanewede, aus der auch der Kaufmann und Diplomat Alfred Ries kam, langjähriger Präsident von Werder Bremen. Nach ihm, der den Holocaust überlebte, wurde im letzten Jahr ein Platz beim Weser-Stadion benannt.

Einen >Glücksfall für Blumenthal< nannte Umweltsenator Lohse den neuen Busbahnhof bei seiner Einweihung im Herbst 2017. Die Verknüpfung von Bus und Bahn und ein sicheres Umsteigen von Bus zu Bus sind erstmalig umgesetzt worden. Doch die Haltestelle >Bahnhof Blumenthal< ist weit mehr als nur ein technisch-funktionaler Ort. In der Geschichte Blumenthals spielte die Fläche vor der Auebrücke immer eine bedeutende Rolle, denn hier treffen und verzweigen sich alle wichtigen Verkehrsachsen. Einen richtig gestalteten Platz hatte es an diesem Ort nie gegeben. Zuletzt wucherte hier eine baumbestandene Grünfläche ohne Namen, auf der >Sir Charles< aus Gestrüpp hervorlugte. Der volkstümliche Begriff >Ständer< deckte lediglich alles ab, was mit der alten Gaststätte >Deutsches Haus<, der Bushaltestelle und anderen Geschäften der näheren Umgebung zu tun hatte. Der >Jenny-Ries-Platz< hingegen umfasst heute den gesamten Bereich des neuen Bahnhofsvorplatzes. Das, meine Damen und Herren, ist auch ein Glücksfall für Blumenthal. Denn welcher Ort könnte besser geeignet sein, verdrängte Geschichte wieder sichtbar zu machen und verstaubte Mythen zu hinterfragen? Die Erinnerung an die Häuserkulisse rund um >Ständer< war doch für viele der Verfolgten das Letzte, was sie von Blumenthal mitnahmen. Und das waren nicht nur Juden.

Das mutige und befreiende Votum des Beirates im Herbst 2016, die Ereignisse von damals in einem Platznamen zu bündeln, machte den Weg für ein Erinnerungsprojekt frei: Heute blicken wir auf ein neu gestaltetes Areal, das mit seinem Namen >Jenny-Ries-Platz< über Blumenthal hinaus strahlt. Dass nur wenige Wochen nach der Eröffnung die Platzschilder mit Farbe verschmiert wurden, macht deutlich, wie wichtig und richtig diese Initiative gewesen ist und wie viel Aufklärungsarbeit zu tun ist, um der aktuellen politischen Propaganda von Rechts entgegenzutreten. Die Gedenkkultur bleibt ein essenzieller Baustein, der unsere demokratische Verfassung dauerhaft begründet. Wer die Parole >Stoppt den Schuldkult< versprüht, zivilgesellschaftliches Engagement für Geflüchtete und Migranten schmäht und immer nur Geschichtsrevisionismus betreibt, denkt nicht nach vorne, sondern schürt Angst und macht die Herzen eng. Die Antwort auf die Frage, wie und mit wem wir in Zukunft leben wollen, bleibt hoffentlich einer Zivilgesellschaft vorbehalten, die entschlossen für Freiheit und Gleichheit eintritt.
In diesem Sinne möge Jenny Ries und allen anderen Opfern faschistischer Gewaltherrschaft immer ein ehrendes Gedenken zuteil werden. Und möge dieser Platz ein lebendiger, sicherer und fröhlicher Ort werden, wo Menschen verschiedenster Art und Herkunft ihren Weg gehen können – ohne Angst.
DANKE